Ich möchte euch gerne an der Geschichte unserer Silvana teilhaben lassen. Sie ist am 26.05.2013 mit einer freien Trisomie 18 geboren und leider zwei Tage später wieder von uns gegangen.

Als wir im Oktober 2012 erfahren haben, dass wir nochmal einen Nachzügler bekommen, war ich sehr glücklich. Wir haben bereits drei gesunde Kinder (damals 11,7,5). Als meine Frau im November 2012 beim Frauenarzt zu einer normalen Ultraschalluntersuchung war, stellte er fest, dass mit dem Herzen etwas nicht in Ordnung zu sein schien. Er riet uns sofort zu einer Fruchtwasseruntersuchung, die wir dann auch durchführen liessen. Am 03.12.2012 kam dann die niederschmetternde Diagnose: freie Trisomie 18! Das riss uns den Boden unter den Füßen weg. Sofort bekamen wir einen Termin bei einer Humangenetikerin. Diese war sehr nett und hat uns erst einmal über diese schreckliche Krankheit aufgeklärt und uns aufgezeigt, dass es für uns nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder ein Schwangerschaftsabbruch oder das Kind austragen. Im ersten Schock waren wir uns einig, dass wir nicht die Kraft dazu hätten, das Baby auszutragen. Zum Glück sagte die Humangenetikerin, dass wir uns für diese schwerwiegende Entscheidung alle Zeit der Welt nehmen könnten. Wir sollten erst einmal "in Ruhe" Weihnachten mit unseren 3 Kindern verbringen und dann könnte man immer noch entscheiden. Je länger wir uns mit dieser Entscheidung auseinander gesetzt haben, desto klarer wurde uns, dass wir es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren können, unser Kind zu töten. Es ist nicht an uns über Leben und Tod zu entscheiden und so beschlossen wir, wir lassen der Natur ihren Lauf und lassen unser Baby selbst entscheiden, ob es zu uns auf die Welt kommen will oder nicht. Und mit fortwährender Schwangerschaft entwickelte sich unsere Kleine immer weiter und wir wussten, dass es ihr in Mamas Bauch gut geht und ihr dort an nichts fehlt. Unsere Hoffnung wurde immer grösser, dass wir sie lebend kennenlernen dürfen.
Am 26. Mai 2013 setzten bei meiner Frau dann die Wehen ein. Und nach wenigen Stunden durften wir dann tatsächlich unsere kleine Silvana lebend im Arm halten. Wir waren so glücklich. Sie sah so perfekt aus. Nach einer kurzen Kennenlern- und Kuschelzeit wurde sie dann auf die Intensivstation verlegt. Noch am selben Abend wurde sie gründlich untersucht und wir bekamen die nächste schreckliche Nachricht. Ihre Speiseröhre war nicht vollständig mit dem Magen verbunden und sie konnte somit nur intravenös ernährt werden. Ausserdem hatte sie einen sehr komplexen Herzfehler. Am nächsten Tag kam dann ein Herzspezialist aus einer anderen Kinik und hat sie noch einmal untersucht. Nach Rücksprache mit allen Spezialisten aus dem norddeutschen Raum kam er zu dem Entschluss, dass sie dringend von einem Operationsmarathon abraten. Silvana würde sehr darunter leiden und starke Schmerzen haben. Dasselbe galt für die OPs bezüglich der Speiseröhre. Meine Frau und ich waren uns schon im Vorfeld darüber einig, dass wir von einer Maximalintensivtherapie absehen würden. Der Oberarzt sagte uns, dass Silvana mit diesen Symptomen maximal noch ein paar Tage überleben würde. Daraufhin habe ich sofort unsere drei Kinder aus der Schule geholt und sie zum Krankenhaus gebracht, damit sie ihre Schwester kennen lernen durften. Da es normalerweise für Kinder strikt verboten ist, die Intensivstation zu betreten, musste der Oberarzt erst noch ein paar Telefonate führen und kam dann schließlich auf uns zu und sagte, dass wir die Kinder bringen dürfen. Außerdem hatte auch noch die Klinikfotografin für uns Zeit. Zusammen mit der Fotografin sind wir dann zu Silvana gegangen und haben sehr schöne Fotos machen lassen. Von Silvana, aber auch Familienfotos mit allen zusammen. Silvana wurde dafür sogar kurzzeitig von allen Apparaten befreit, sodass auf den Fotos nichts von ihrer dramatischen Situation zu sehen ist. Als wir wieder auf unserem Zimmer waren, konnten meine Frau und ich unsere Tränen einfach nicht mehr länger aufhalten. Ich glaube ich habe seit meiner Kindheit nicht mehr so bitterlich geweint wie an dem Tag. Zum einen aus Glück, dass das mit den Fotos und den Geschwisterkindern so gut geklappt hat, zum anderen aber auch, weil unser Gefühl uns sagte, dass die drei ihre Schwester wohl zum letzten Mal gesehen haben.
In der darauffolgenden Nacht ging es Silvana immer schlechter. Am Vormittag haben wir dann die Pastorin der Klinik gerufen und sie hat Silvana getauft. Danach haben wir sie von allen Geräten und Schläuchen befreit und sie in unsere Arme genommen. Wir wollten ihr die restliche Zeit geben mit uns zu kuscheln. Und das haben wir dann auch ausgiebig getan. Ich glaube, Silvana hat das Kuscheln in den beiden Tagen sehr vermisst und wollte das unbedingt noch nachholen. Sie hat sich nämlich noch fünf ganze Stunden für uns Zeit genommen, ohne irgendwelche Schläuche oder Geräte. Sie war eine echte Kämpferin und hat bei allen betreuenden Ärzten nur verwunderte Gesichter zurückgelassen. Nach 49 Stunden auf dieser Welt ist sie dann friedlich in meinen Armen eingeschlafen. Wir sind sehr stolz auf unsere Tochter und ihr unendlich dankbar, dass sie uns die Möglichkeit gegeben hat, sie kennenlernen zu dürfen. Sie wird immer in unseren Herzen weiterleben.

 

 

Neun Tage nach ihrem Tod ist Silvana beerdigt worden. Es war ein wunderschöner warmer Frühlingstag, die Sonne strahlte den ganzen Tag lang vom Himmel. Wir hatten alle Menschen, die uns an Silvanas letztem Weg auf der Erde begleiten wollten, gebeten, nicht in schwarzer Kleidung zu kommen. Alle haben sich ausnahmslos daran gehalten. Es sollte kein Tag der Trauer werden, sondern wir wollten Silvanas – wenn auch kurzes – Leben feiern. Auch an diesem Tag überwog die Dankbarkeit darüber, dass unsere Tochter uns diese wertvolle gemeinsame Zeit geschenkt hat.

Auch heute, 10 Jahre nach Silvanas Leben, ist sie weiterhin ein fester Bestandteil in unserer Familie. Wir reden sehr oft über sie, das Familienfoto hängt im Wohnzimmer und natürlich ist auch die regelmäßige Grabpflege ein wichtiger Teil unserer Trauerverarbeitung. Silvana ist unser viertes Kind, ein Teil unserer Familie – und das wird sie auch für immer bleiben.

 

Es gibt vielleicht einige Menschen in meinem Umfeld, die es nicht nachvollziehen können, warum ich unsere Geschichte hier so öffentlich mache. Es geht mir einzig und allein um Öffentlichkeitsarbeit. Leider wird von den Ärzten bei einer infausten Prognose immer noch sofort zu einem Abbruch geraten. Der Weg des Austragens wird dabei entweder gar nicht oder nur beiläufig erwähnt. 
Wenn man als werdende Eltern solch eine Diagnose mitgeteilt bekommt, steht man vor einer der schwersten Entscheidungen, die ein Mensch treffen muss. Diese Entscheidung muss jedes Paar für sich selbst treffen. Und kein Aussenstehender hat das Recht, sich in diese einzumischen. Ich werde niemanden verurteilen, der sich nach reiflicher Überlegung für einen Abbruch entscheidet. Das steht mir auch nicht zu. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass es noch einen anderen Weg gibt, den Weg, das Baby auszutragen. Vielen Paaren wird leider vermittelt, das Baby würde im Mutterleib leiden. Dem ist nicht so, es wird dort bestens versorgt, auch wenn es vielleicht ein Chromosom mehr hat als andere. Es gibt die Möglichkeit, das Kind selbst entscheiden zu lassen, ob und wann es auf die Welt kommt. Es gibt die Möglichkeit, wertvolle Momente mit dem Kind zu sammeln. 
Ich habe bisher noch nie von einem Fall gehört, in dem das Paar es bereut hat, das Baby ausgetragen zu haben. Umso häufiger kommt es vor, dass sich Paare Vorwürfe machen, die Schwangerschaft abgebrochen zu haben. Oftmals wurden sie gar nicht oder nur unzureichend aufgeklärt. Wenn sich aufgrund unserer Geschichte auch nur ein einziges Elternpaar dazu bewegen lässt, sich FÜR ihr Kind zu entscheiden, hat es sich für mich schon gelohnt, diese öffentlich gemacht zu haben.

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© Jens Petershagen